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Judenverfolgung vor aller Augen

Peter Longerich: Davon haben wir nichts gewusst!"

Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933-1945, Siedler-Verlag München 2006


Gewusst - was heißt schon "gewusst"? Der Satz "Davon haben wir nichts gewusst!" war in der Nachkriegszeit, in der Zeit des großen Vergessens und Verdrängens, fast so etwas wie ein geflügeltes Wort. Das, wovon man nichts mehr hatte wissen wollen, war die geplante und zu einem großen Teil auch vollzogene Vernichtung der Juden in Europa durch die Deutschen. Der Historiker Peter Longerich ist genau dieser Frage nachgegangen, was jeder Einzelne der "deutschen Volksgemeinschaft" hat ahnen können, wissen können, und seine verblüffende Erkenntnis ist, dass die damalige deutsche Bevölkerung nicht nur habe wissen können, sondern sogar wissen sollen, dass die Juden ermordet wurden. Das Zitat auf der Startseite dieser Website
 

"Die öffentliche Handhabung des Themas durch das Regime in der zweiten Jahreshälfte 1942 lief also darauf hinaus, die umlaufenden Gerüchte indirekt zu bestätigen; dahinter stand offenkundig das Kalkül, die deutsche Bevölkerung zu Zeugen und Mitwissern des Massenmordes an den Juden zu machen." (Longerich, S. 325)

ist die Hauptthese seines Buches, das den Titel "Davon haben wir nichts gewusst!" trägt. Es ist 2006 im Verlag Siedler erschienen.

Der Schriftsteller Thomas Mann hat es hellsichtig geahnt, schon 1941. In einer Rundfunkansprache, ausgestrahlt vom britischen Sender BBC, nannte er den Grund, der sich später bestätigen sollte:
 

Das Unaussprechliche, das in Russland, das mit den Polen und Juden geschehen ist und geschieht, wisst ihr, wollt es aber lieber nicht wissen aus berechtigtem Grauen vor dem ebenfalls unaussprechlichen, dem ins Riesenhafte angewachsenen Hass, der eines Tages, wenn eure Volks- und Maschinenkraft erlahmt, über euren Köpfen zusammen schlagen muss. Ja, Grauen ist am Platz, und eure Führer nutzen es aus. Sie, die euch zu all diesen Schandtaten verführt haben, sagen euch:  Nun habt ihr sie begangen, nun seid ihr unauflöslich an uns gekettet, nun müsst ihr durchhalten bis aufs Letzte, sonst kommt die Hölle über euch." (aus "Deutsche Hörer!" von Thomas Mann, S. 44)

Peter Longerich geht in seinem  450 Seiten starken Buch den Spuren dieser von Thomas Mann geahnten Verkettung nach. Anhand vieler, zum Teil neu erschlossener Quellen kommt er zu dem Schluss, dass die Ermordung der europäischen Juden in der Nazi-Zeit so etwas wie ein offenes Geheimnis war. Versteckte Hinweise in Zeitungen wertete er ebenso aus wie Reden von Nazi-Führern, in denen ganz offen die Ausrottung der Juden angekündigt wurde. Im NS-Staat habe es in Bezug auf den Holocaust eine Ambivalenz gegeben, beschrieb er in einem Interview mit der Zeitung "taz" 2006 das Vorgehen der damaligen Führung. Einerseits wurden Details des Judenmordes als Staatsgeheimnis behandelt, das zu verraten unter Strafe stand - andererseits habe das Regime selbst die Gerüchte über die "Endlösung" eher bestätigt. Und das Volk habe diese Hinweise verstanden. Man wusste nicht genau, wie die deportierten Juden ermordet wurden, aber man wusste: sie werden ermordet. Das sei nur allzu menschlich, argumentiert der Historiker: "Die Leute verstehen, was mit den Juden geschieht, und wollen es gerade deshalb nicht mehr wissen. Das Bewusstsein >Wir haben davon nichts gewusst< setzt ein, nachdem sie verstanden hatten, was die NS-Führung tut."

Einerseits also wurde der Massenmord verheimlicht, abgeschirmt, denn die NS-Führung wusste, dass die Menschen dies nicht gutheißen würden. Diesem "es nicht gutheißen" widmet der Autor breiten Raum. Er schildert den stummen Widerstand in der Bevölkerung auf den Boykott jüdischer Geschäfte, das Erschrecken nach der "Reichskristallnacht", die drakonisch unterdrückten Solidaritätsaktionen, die als Reaktion auf die Judenstern-Verordnung folgten. Andererseits wurde von der NS-Führung recht offen über Judenvernichtung gesprochen, wurden Hinweise gegeben, wurde Mitwisserschaft erzeugt, weil die NS-Führer wollten, dass jeder Deutsche weiß, dass es geschieht. Longerich zeigt, dass diese Ambivalenz auch nach 1945 weiter wirksam war. In einem Satz wie dem "Davon haben wir nichts gewusst" wird es schon von der Wortwahl her deutlich. Es heiße ja nicht "Davon habe ich nie etwas gehört!" sondern "wir" haben es nicht "gewusst". Hinter dieser Ambivalenz konnte sich in den Jahren nach dem Krieg das Schuldbewusstsein verstecken. Ein Erfolg der NS-Propaganda, der den Zusammenbruch des Regimes überdauert hat.

 

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